Legasthenie in Ausbildung, Studium und Beruf

 

Themen:

- Nachteilsausgleich in der Ausbildung, Kirsten Vollmer, Bundesinstitut für berufliche Bildung, Bonn

- Nachteilsausgleich im Studium, Dr. Meike Gattermann-Kasper, Uni Hamburg

- Einsatz technischer Hilfsmittel und anderer Kompensationsstrategien, Annette Höinghaus, Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie

 

Erstmals wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Präsentationen und Skripte zum Download zur Verfügung gestellt.

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Unter dem Motto  „Legasthenie in Ausbildung, Studium und Beruf“  fand am 29.10.2016 in Hannover eine Tagesveranstaltung mit drei Referentinnen sowie einer abschließenden Podiumsdiskussion statt. Etwa siebzig  Gäste nahmen an dieser Tagung teil. Unter ihnen waren Erwachsene in Ausbildung und Studium, Lehrer aus berufsbildenden Schulen, Fachleute von Universitäten, Therapeuten und Eltern.

 

Nach der Begrüßung durch die  Kreisverbandsvorsitzende Marianne Büngel folgte der Vortrag von Frau Kirsten Vollmer aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn.

 

Frau Vollmer ging eingangs ihres Vortrags auf die neue Rechtslage aufgrund Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ein. Danach gilt ein Mensch mit Einschränkungen nicht mehr als behindert, sondern als benachteiligt. Aufgabe des Staates ist es, solche Benachteiligungen auszugleichen.

 

Bei der Auswahl der „angemessenen Maßnahmen“ für den geeigneten Ausgleich ist die jeweilige Einschränkung entscheidend, die der Mensch hat. Der Nachteilsausgleich sei eine solche „angemessene Maßnahme“. Der Anspruch auf einen Nachteilsausgleich als „angemessene Maßnahme“ gilt nicht nur für (Schwer)-Behinderte mit entsprechendem Ausweis, sondern für jeden Menschen mit einer Einschränkung.

 

Frau Vollmer erwähnte dann die drei Wege, die in Deutschland zur Ausbildung führen (duale Ausbildung durch Ausbildungsbetrieb in Verbindung mit Berufsschule), sowie die beiden Wege nach dem 9. Sozialgesetzbuch (unterstützende Ausbildung und Ausbildung in Werkstätten für Behinderte), bevor sie dann auf die Rechtslage bei der dualen Ausbildung einging.

 

Für den betrieblichen Ausbildungsteil gilt das Berufsbildungsgesetz (BBiG) bzw. die Handwerksordnung. Handwerkskammer (HK) bzw. Industrie- und Handelskammer (IHK) müssen für Nachteilsausgleich sorgen, wenn eine Benachteiligung vorliegt. Die Kammern in NRW sind dabei besonders fortschrittlich und haben bereits im Formular zur Prüfungsanmeldung vorgesehen, dass Benachteiligungen angegeben werden können.

 

Auf den schulischen Teil der dualen Ausbildung ging Frau Vollmer nicht ein, da das Schulrecht in jedem Bundesland anders ausgestaltet ist Sie empfahl in diesem Zusammenhang, spätestens mit der Anmeldung zur Prüfung auf die Benachteiligung hinzuweisen und diese (möglichst) durch eine ärztliche Bescheinigung nachzuweisen. Sinnvoll und für die Prüfungskommissionen hilfreich sind dabei Hinweise darauf, wie der Nachteil oder die Nachteile ausgeglichen werden können.

 

Entscheidend für den Ausgleich ist der Einzelfall. Eine generelle Linie, dass für eine bestimmte Einschränkung (nur) eine bestimmte Ausgleichsmaßnahme gewährt werden darf, ist nicht ausreichend.

 

Da bei einem Nachteilsausgleich lediglich dem Prüfling ermöglicht wird, sein Können unter Beweis zu stellen, das Prüfungsniveau jedoch gleich bleibt, ist die Prüfung nicht angreifbar. Dies wurde an Hand eines Cartoons deutlich: eine kleinwüchsige Person kann erst mit einem Hilfsmittel (z. B. Leiter) für die Prüfung als Koch den Topf erreichen. Die Prüfung selbst wird dadurch nicht erleichtert, sondern überhaupt erst ermöglicht.

 

Im zweiten Vortrag des Tages erläuterte Frau Dr. Meike Gattermann-Kasper von der Uni Hamburg die Situation für Studierende an Universitäten. 

 

Sie wies auf Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz hin: das Recht auf Gleichheit – auch Chancengleichheit! - gilt immer, selbst dann, wenn die Prüfungsordnung keine spezielle Regelung enthält. Studierende haben dementsprechend Anspruch auf Nachteilsausgleich, wobei im Antrag möglichst genau beschrieben werden sollte, welche Einschränkungen bestehen. Ein Schwerbehinderungsausweis genügt dafür nicht, da dieser für Behinderungen unterschiedlichster Art ausgestellt werden kann, ohne die individuellen Einschränkungen konkret zu benennen.

 

Eine „schwierige Lebenssituation“ kann übrigens nicht zum Nachteilsausgleich führen, da die Einschränkungen dauerhaft bestehen müssen.

 

Grundsätzlich ist rechtlich geklärt, dass Menschen mit Legasthenie Anspruch auf Nachteilsausgleich haben. Allerdings ist die Rechtsprechung relativ alt und wird kaum fortentwickelt, bezieht sich häufig auf Jura und Medizin und spricht häufig lediglich von Zeitverlängerung.

 

Häufig ist es besser, in Gesprächen geeigneten Nachteilsausgleich zu vereinbaren statt gerichtlich durchzufechten, weil es dabei bereits häufiger zu Entscheidungen kam, die die Kläger schlechter stellten als das, was ihnen von der Uni angeboten worden war, wobei diese schlechtere Entscheidungslage dann auch noch von unwilligen Universitäten oder Professoren in anderen Fällen herangezogen werden kann.

 

Frau Dr. Gattermann-Kasper wies darauf hin, dass der Bescheid über den Nachteilsausgleich nur die Maßnahmen enthält, keine Diagnosen. Da bestimmte Maßnahmen für unterschiedliche Einschränkungen anwendbar sind, ist mit einem Bescheid über einen Nachteilsausgleich nicht unbedingt klar, welche Art Einschränkung vorliegt. Der Datenschutz wird ohnehin gewahrt.

 

Ihre Empfehlung in der anschließenden Fragerunde war sich ggf. bereits vor dem Studium zu erkundigen, welche konkreten Anforderungen im Wunschstudiengang an der Wunschuniversität gestellt werden, um ggf. auf ein angrenzendes Fach oder eine andere Universität auszuweichen.

 

Der abschließende Vortrag von Frau Annette Höinghaus vom BVL weitete den Blick der Zuhörerinnen und Zuhörer für die inzwischen vielfältigen technischen Hilfsmittel. Sie schilderte, dass der Nachteilsausgleich ihrer Erfahrung zu Folge häufig auf Zeitzugabe reduziert wird.

 

Für Auszubildende sollte unbedingt ein Antrag auf Nachteilsausgleich gestellt werden. Da dafür ein erneutes Gutachten erforderlich ist, empfahl sie dringend, spätestens 18. Lebensjahr nochmals einen Kinder- und Jugendpsychiater aufzusuchen (auch wenn das für den jungen Erwachsenen komisch ist). Dabei sollte der Gutachter/die Gutachterin gleich die geeigneten Ausgleichsmaßnahmen mit benennen.

 

Technische Hilfsmittel ersetzen keine Förderung, aber sie können dennoch z. B. ermöglichen, dass auch erwachsene legasthene Menschen noch Fortschritte bis zu einem höherwertigen Abschluss erreichen können.

 

Frau Höinghaus wies darauf hin, dass es viele Lehrbücher bereits als pdf gibt, die von geeigneten Computerprogrammen vorgelesen werden können. Häufig verfügen Blindenbibliotheken, aber auch Berufsbildungswerke über solche Bücher. Blindenbibliotheken sind ihrer Erfahrung zu Folge gern zur Unterstützung bereit.

 

Die Referentin erwähnte auch, dass ein Nachteilsausgleich – da er eben nur einen bestehenden Nachteil ausgleicht – nicht ins Zeugnis darf, anders als ein Notenschutz, da dieser eine gewisse „Bevorzugung“ ist.

 

Auf Nachfrage in der anschließenden Fragerunde erläuterte Frau Büngel, dass es im Großraum Hannover auch für Erwachsene die Möglichkeit zu einer Testung gibt, die allerdings selbst bezahlt werden (außer ggf. bei arbeitslosen Personen – dort übernimmt die Kosten evtl. die Agentur für Arbeit).

 

Im Anschluss an die Vorträge fand eine Podiumsdiskussion mit sechs jungen Erwachsenen statt, die zum Teil noch im Studium bzw. Ausbildung waren oder bereits in abgeschlossenen Berufen arbeiteten. Sie konnten dem Auditorium in beeindruckender Weise vermitteln, dass sich trotz Beeinträchtigungen im Bereich des Lesens und Schreibens, sprich mit einer Legasthenie, die sie durch die gesamte Schul -, Ausbildungs-, Studiums- und Berufszeit begleitet hat und die sie noch weiterhin begleitet, und trotz vieler Tiefgänge selbstbewusste Persönlichkeiten entwickeln können.

 

Die sechs jungen Männer  berichteten, wie sie mit unterschiedlichen Techniken und Strategien in ihrem Leben mit Lesen und Schreiben umzugehen gelernt haben. Die bei ihnen durchgeführten Therapien haben ihnen allen eine gute Basis gegeben, aber auch eigene entwickelte Strategien haben sie weitergebracht. Besonders hervorgehoben haben sie die Unterstützung durch ihre Familien, aber auch durch Freunde z.B. im Studium.

 

Bei der abschließenden Frage, welche Empfehlungen sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben würden, hoben sie insbesondere die immerwährende Unterstützung durch die Eltern hervor. „Nicht aufgeben, es wird sich lohnen, am Kampf gegen die Legasthenie dran zu bleiben. Gebt uns nicht auf.“  Dies war die Aussage eines jungen Mannes.

 

Dieser Tagungsabschluss hat  sicher alle Tagungsteilnehmer beeindruckt, denn der Applaus dafür war anhaltend. Insgesamt machte diese gelungene Veranstaltung klar, dass nicht nur im Schulbereich, sondern auch in der Ausbildung und im Studium schon vieles möglich, aber auch noch vieles zu verändern ist. Hier sollten immer die Persönlichkeit, die individuellen Leistungen  und die Talente eines jeden einzelnen Betroffenen im Vordergrund stehen.

Aktuelles:

Hier finden Sie die geplanten Termine 2024 unserer Selbsthilfegruppe Wunstorf.

Terminplakat 2024
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Hier finden Sie die geplanten Termine 2024 der Online-Selbsthilfegruppe.

Online-Termine 2024
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Hier finden Sie die geplanten Termine 2024 der Online-Lehrkräftetreffen

Online-Termine Lehrkräftetreff 2024
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"I wonder" - ausgezeichnet mit dem Preis des Hochschulrates der Hochschule Mainz und "Bester Kurzfilm 2019" beim Independent StarFilmfest München

Emotionaler Kurzfilm über Legasthenie, veröffentlicht auf YouTube - siehe  Kurzinformation auf unserer Startseite